Die doppelte Neuerfindung von Saint-Nazaire.


Was führt mich nach Saint-Nazaire, ausser dem Umstand, dass es auf meinem Weg liegt, Hunderttausend heulende Höllenhunde? Ganz klar: Bei mir, als grosser Tim und Struppi Fan, leuchten bei Saint-Nazaire sofort die Augen: ‚Die sieben Kristallkugeln‘! Von Saint-Nazaire aus verschiffen Tim und Haddock nach Südamerika, dem entführten Professor Bienlein (Tournesol) auf der Spur. Das ist unbedingt einen Abstecher wert. Und ich werde nicht enttäuscht.

Denn auch Saint-Nazaire erinnert sich an den Brüsseler Reporter-Helden und hat jüngst einen Tintin Parcours installiert: Grossplakate an all den Orten (vornehmlich rund ums Hafenviertel), die auch im Tim und Struppi Band ‚Die sieben Kristallkugeln‘ (Doppelband zusammen mit ‚Der Sonnentempel‘) vorkommen – wirklich spannend, dem Pfad nach zu wandern!

Beim U-Boot-Bunker, einem Millionen Tonnen Stahlbeton-Monstrum aus dem zweiten Weltkrieg, das mittlerweile Wirtschaft, Kultur und Tourismus gleichermassen beherbergt, findet sich etwas fast noch Interessanteres: Eine Ausstellung darüber, wie sich Saint-Nazaire erstens nach den grossflächigen Zerstörungen der Stadt im zweiten Weltkrieg mittels umsichtiger Planung durch anerkannteste Architekten und Raumplaner der Zeit einmal komplett neu erfand, und wie es zweitens im 21. Jahrhundert erneut dabei ist, sich wiederum komplett neu zu erfinden, mit der gleichen Umsicht, und zwar nicht bloss kosmetisch, sondern grossräumig, tiefgreifend, Demografie, Klima, Wirtschaft, Kulturwert, Verkehr, Umweltschutz, Bildung, Vernetzung, usw. im Sinn, Stadtplanung im besten Sinn des Wortes.

Während beim ersten Wiederauferstehen für (und meiner Meinung nach wirklich für) das Volk geplant und gebaut wurde, wird bei der aktuellen Neugeburt das sehr multikulturelle Volk breit und intensiv in die Planung mit einbezogen.

Diese zwei wichtigen Schritte für die Stadt durch die Jahrzehnte führen immer weiter in den Raum hinein durch Umstände der Zeit, Architektur, soziologische Einblicke, Kultur, Befindlichkeiten, Herausforderungen und ein Kaleidoskop an Ansätzen und Lösung dafür, teils bereits umgesetzt, teils im Entstehen, teils in Planung – die Stadt meinst es ernst. Modern, realistisch, fortschrittlich und pragmatisch, sich um wirkliche Probleme kümmernd, auf ihre Geschichte Bezug nehmend, aber visionär durch und durch. Das ist ebenso eindrücklich wie in diesen Räumen eindrücklich dokumentiert.

Nach Stunden fahre ich weiter mit Hochgefühl.

Und wie es der Zufall will, auf dem Prototyp einer Mutliverkehrsachse. Auf grosser Breite links und rechts, richtungsgetrennt je eine Spur für Autos, beidseitig von breiten Naturflächen eingerahmt, jeweils aussen und innen davon grosszügige Fussgänger- / Radwege, und ganz in der Mitte ein Band für Tram, Bus und wiederum Fussgänger, alles miteinander verknüpft, alles mit besten Zugängen zu den angrenzenden Quartieren und Zentren versehen. So etwas habe ich noch nie gesehen, schon gar nicht in solcher Konsequenz.



In der Ausstellung hing ein Fahrplan aus der Zeit – Saint-Nazaire >>> Vera Cruz, eine rund dreiwöchige Passage; am liebsten hätte ich gleich eingeschifft.

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