Mon Saint Michel.


Ich steige vom Rad und schiebe es über einen kleinen Deichweg, folge dann der stillen Linie eines Kanals, die Wasser schluckt und Licht zurückspiegelt, bis ich Mont-Saint-Michel in der Ferne sehe. Zuerst wirkt er wie eine Silhouette auf dem unendlichen Sandmeer, ein Fels, darauf gemauert Häuser und Türme, oben die Abtei, weit und hoch gegen den Himmel. Diese Ansicht, so aus der Distanz, ist die eindrücklichste, fast stärker noch als alles, was nah und real ist.

Ich bin gut fünfzehn Kilometer vom Parkplatz des Mont-Saint-Michel weg gestartet, den ich gescheut habe wegen der hohen Gebühren. Der Kanal begleitet mich: graues Wasser, glatte Spiegelung von Wolken und Schilf, und immer wieder ein Blick auf Mont-Saint-Michel, wie ein Schiff aus Stein, das festgemacht ist mitten in Weite und Meer. Schritte des Windes auf dem Wasser, Möwen, feucht-salzige Luft – all das mischt sich zur Vorahnung.

Als ich näher komme, setze ich über den letzten Steg, der bei Springflut verschwindet; bei Hochwasser steht Wasser zu beiden Seiten und Mont-Saint-Michel scheint dann wirklich eine Insel zu sein – umgeben von Wasser, isoliert. Jetzt aber ist Ebbe, der Steg legt sich sanft über die Schlickfelder. Ich gehe langsam, mein Rad neben mir her rollend, spüre, wie der Boden unter den Sohlen sich verändert: von festem Grund zu feinkörnigem Sand, über glatten Stein. Späte schwache Sonnenstrahlen tauchen das Gemäuer in grau-warmes Licht.

Es ist schon gegen Abend, und die Menge der Touristen ist geringer als tagsüber. Noch immer genug, dass auf der steilen Straße hinauf kleine Stockungen sind, Menschen in Zweierreihen, Fotos hier und dort, Postkarten in Kiosken, Rucksäcke. Doch im Verhältnis zu dem, was gang und gäbe ist – Busladungen voller Sehbegierigen, grosse Reisegruppen, fremde Massen im Licht der Mittagssonne – ist es jetzt ruhig. Ich stelle mein Fahrrad knapp am Fuße des Mont-Saint-Michel ab, zwischen alten Mauern, und betrete das mittelalterliche Dorf, das sich so dicht an den Hang schmiegt, als wolle es sich hinter ihm verbergen. Kopfsteinpflaster, schmale Gassen, Fachwerk und Stein; da eine jahrhundertealte Schenke mit einem hölzernen Schild, Patina, Geruch von Apfelwein und gedämpftem Gespräch.

Dann biege ich ab, scharf rechts hinauf, eine Treppe zwischen zwei Häusern, so eng, dass meine Schultern die Wände auf beiden Seiten berühren – die Gasse etwa vierzig Zentimeter schmal, kaum Platz zum Atmen, kaum Platz, den Blick schweifen zu lassen. Mitten hinauf eine steile Treppe, nach vorne ein Streifen Licht. Nicht für jedermann, denke ich, für mich aber ein Tor in eine Zeit, die anders geatmet hat.

Oben, am Eingang, spüre ich einen Moment lang, wie das Gewicht der Welt zurückbleibt – kaum bin ich durch das Tor, empfängt mich eine Art Leere. Kein Handel, kein Marktschreien, sondern nackter Stein, riesige Säle und Kammern, von Licht durch die Fensterhöhlen gebrochen, Schatten in Ecknischen. Ich weiß, dass hier im Lauf der Jahrhunderte geplündert wurde, Kriege getobt haben, Mauern gestürzt und wieder aufgebaut worden sind.

Aber diese Leere… sie fühlt sich anders an: als sei alles hier ausgesogen. Als hätten die Millionen, die hierher gekommen sind, mit Blicken und Kameras, mit Staunen und Blitzlicht alles mitgenommen, was Substanz sein könnte. Die Räume sind blitzblank, jede Oberfläche ist geglättet vom Gebrauch, aber auch gereinigt von der Strahlkraft, die die Phantasie des Besuchers zu betören vermag. Nur hie und da in einem unscheinbaren Eck erhascht man einen kleinen Ausdruck von Leben; ein kleiner Dachgarten, eine Kammer mit Büroplatz, ein gehisstes Stück Wäsche.

Was wäre, wenn all das Leben, all das Geheimnis noch sichtbar und zugänglich wäre? All die Türen, die einst (und noch) verborgene Kammern bargen, Zwischengänge mit unklarem Ende, schmale Treppchen in den Mauern, die halb verborgenen Öffnungen? Das Leben darin, die Geschichten, drohendes Unheil, errungene Siege, Gedanken, Hoffnungen, Stossgebete. Wie sinnsprengend wäre Mont-Saint-Michel dann? Jedoch – wann immer es interessant würde, ist der Weg blockiert, ein Absperrband, ein Sichtschutz, ein Gitter hindert Einblick und Weiterkommen. Verständlich: vermutlich gingen sonst täglich Dutzende verloren in diesem Labyrinth aus Stein. So folge ich also den hübschen Pfeilen des Rundgangs – Entrée, Sortie, this way –, durch leere Refektorien, Kreuzgänge, Kapellen.

Zuoberst erhebt sich die Abteikirche über allem – romanisch im unteren Teil, gotisch in Chor und Fenster, gebaut zwischen dem 11. und 16. Jahrhundert, restauriert im 19. Jahrhundert nach Verfall und Beschädigung. Dort oben bricht das Licht durch die hohen Bogenfenster und fällt auf den Pflasterboden, in alle Richtungen Lichtbänder und Schatten werfend; es wirkt mächtig, erhebend, gleichzeitig leicht und leuchtend. Der wiederhergestellte Chor der Abtei ist nebst allen anderen architektonischen Höhepunkten das wirkliche Meisterwerk, und als solches strahlt es auch heute noch. Auch das riesige hölzerne Tretrad eines Lastenaufzugs, das eingespannt zwischen meterdicken Mauern hängt seit dem Mittelalter, verstömt Atmosphäre. Schwer und wuchtig vermittelt es, wie hart die Arbeit derer war, die es betreiben mussten, um zum Beispiel Baumaterial in die Höhe zu befördern.

Ein paar Menschen leben noch auf Le Mont-Saint-Michel; eine Handvoll Geistliche nebst einigen ‚Zivilisten‘. (Wohnraum wäre genügend vorhanden.) Einen Mönch und eine Ordensschwester erblicke ich sogar, irgendwo zwischen den Mauern, ihrer Arbeit nachgehend. Doch Geistlichkeit – Stille, Gebet, ‚das Heilige‘ – spüre ich nicht. Es ist ein Ort des Staunens über die Vergangenheit, ein eingefrorenes Monument. Es schützt sich zwar gegen die Überwältigung durch Zeit und Menschen, doch opfert es dabei vieles: die spirituelle Präsenz, die Intimität des Ursprünglichen.

Ich trete hinaus, zurück auf den Vorplatz, atme die Abendluft. Draußen sehe ich ein gutes Dutzend, mit Kameras, abwartend, das beste Licht suchend, das Spiel von Sonne und Schatten auf den Zinnen im Visier. Für manche ist das zu anstrengend – für sie hängen drinnen zahlreiche Fotografien von Mont-Saint-Michel, die sich leicht abfotografieren lassen, was viele tun, um zuhause gute Bilder zeigen zu können.

Mit einem Blick zurück auf Mont-Saint-Michel sehe ich ein Monument aus Stein und Geschichte, gewaltig in seiner Wirkung, klein in seiner ursprünglicher Bedeutung – nicht mehr Zufluchtsort und Refugium von Wissen und Glauben, sondern von Postkarten und Andenken.

Früher waren es die Pilger, die nach Mont-Saint-Michel tourten, heute sind es die Touristen, die nach Mont-Saint-Michel pilgern. Eigentlich alles beim Alten.