Der Besuch des Nordkaps war nur Vorspiel, eine Ouvertüre aus kaltem Wind, der sich um den eisernen Globus schlang wie um ein Götzenbild der Reisenden. Doch das eigentliche Ziel liegt nicht dort, wo die Busse sich aneinanderreihen, sondern weiter westlich, jenseits des touristischen Endpunktes, verborgen in der Nüchternheit der Tundra.
Es ist Knivskjellodden, die Landzunge, die sich noch 0,0135 Breitengrade weiter in den arktischen Ozean schiebt, die lockt, es ist der wahre nördlichste Punkt des europäischen Festlands.
Am frühen Morgen ziehe ich los, gut ausgerüstet für wechselhafte Bedingungen. Vor mir liegt eine karge Weite, ein Mosaik aus Felsen, sumpfigen Senken und zähen Grasflächen, die sich in endloser Wiederholung übereinanderlegen wie Wellen aus Erde. Der Wind schneidet mir ins Gesicht, kühl, fordernd, ein ständiges Mahnmal dafür, dass ich mich hoch oben, fast am Ende der Welt, bewege. Wolken ziehen, reissen wieder auf, lassen blasse Sonnenstrahlen auf die kleinen Seen und Tümpel fallen, die überall wie Scherben von Glas im Boden eingesprenkelt sind. Dann bedeckt es sich wieder.
Es gibt keine Höhenmeter, die den Atem rauben, doch jeder Schritt verlangt Aufmerksamkeit. Mal sinkt mein Fuß im sumpfigen Boden ein, mal kippt er auf losen Steinen weg, dann wieder stolpere ich über schräge, vom Eis geglättete Platten. Holzstege liegen über den feuchtesten Passagen, doch sie sind schmal und rutschig. Aufgerichtete Steintürmchen markieren die Richtung, wie stumme Wächter in dieser Landschaft, die sonst keinen Weg kennt.
Überall ziehen Rentiere durch die Weite, gelassen, fast gleichgültig gegenüber meiner Gegenwart. Ihre Geweihe sind wie Kronen aus knorrigem Holz, ihr Fell schimmert zwischen Grau und Braun, fast verschwindend im Gelände. Am Himmel schreien Dreizehenmöwen, während Eismöwen, groß und schwer, mit trägerem Flügelschlag über die Küste gleiten. Auf feuchten Wiesen höre ich Bekassinen, deren eigentümliches Meckern in den Wind fällt, und weiter draußen im Moor ruft ein Sterntaucher, melancholisch wie ein ferner Hornruf. Diese Vögel sind die eigentlichen Bewohner des Nordens, sie tragen die Weite in ihrer Kehle.
Der Weg zieht sich. Stunde um Stunde wandere ich, über Hügel, die einander gleichen, wie eine endlose Prozession kleiner Erhebungen. Kaum ein Mensch begegnet mir, und wenn, dann sprechen ihre Sprachen aus allen Herren Ländern: leise französische Sätze, ein fragendes Englisch, eine Handbewegung eines Deutschen. Wir sind alle Gäste, verloren und zugleich geeint durch diesen Marsch.
Nach knapp zwei Stunden öffnet sich vor mir eine Bucht. Der Abstieg ist steil, Geröll knirscht unter meinen Schritten. Unten drängt sich das Meer heran, dunkel, unruhig, mit einer Kälte, die bis in die Knochen fährt. Doch das Ende ist noch nicht erreicht. Vor mir liegt die letzte Landzunge, Knivskjellodden selbst, ein Streifen aus schrägen Felsplatten, die direkt ins Wasser abfallen. Hier gibt es keinen Pfad mehr, nur die Suche nach dem eigenen Weg, tastend, Schritt für Schritt, über den glatten Stein.
Nach mühsamen anderthalb Kilometern stehe ich endlich am nördlichsten Punkt Europas. Von hier aus blicke ich gen Osten, und dort erhebt sich die ungeheure, dreihundert Meter hohe Klippe, auf deren Ende wie ein winziger Stempel der eiserne Globus des Nordkaps thront. Touristen dort oben ahnen nichts von der Einsamkeit hier unten. Ein kleines Steinmonument markiert den Punkt, daneben ein zerfleddertes Gästebuch, dessen Seiten vom Wind zerzaust sind. Ich setze mich, beiße in mein Sandwich, klebe ein Blasenpflaster auf die rechte Ferse und atme die Stille. Es ist ein Triumph, unscheinbar und gewaltig zugleich.
Der Rückweg beginnt auf dem Grat, hoch über der Bucht, doch er endet abrupt. Kein Pfad führt weiter, ich muss hinabsteigen, wieder hinauf zur Hochebene. Nach zwei Kilometern spüre ich, wie der Boden seinen Preis fordert: Das linke Knie schmerzt, die Füße brennen. Noch acht Kilometer liegen vor mir. Ich blende sie aus, wiederhole mein Mantra: Es gibt keine Zeit, nur den Moment.
Die Hügel, die ich auf dem Hinweg beinahe überflog, ziehen sich nun endlos hin, jeder Anstieg ein kleiner Sieg, jeder Abstieg eine Prüfung. Der Wind ist unnachgiebig, die Kälte kriecht in meine Finger. Doch der Gedanke an den Bus, der dort auf dem Parkplatz wartet – Wärme, Nahrung, Wasser, die Heilung kleiner Wunden – treibt mich weiter.
Endlich, nach vielen tausend Schritten, erkenne ich in der Ferne das Grau des Asphaltstreifens, die Silhouette meines Busses. Ein letzter Kilometer, ein letztes Ringen. Dann ist es geschafft.
Zwanzig Kilometer, ein Tagesmarsch, nicht ungewöhnlich und doch in dieser Landschaft schwer wie dreißig. Ich habe meine Grenze gespürt, und zugleich habe ich sie ausgedehnt. Noch tagelang begleiten mich Muskelkater, ein lädiertes Außenband, die brennenden Blasen an den Füßen – kleine Male, die mich erinnern, dass ich dort war, am wirklichen Ende Europas, wo die Tundra das Meer küsst.













